Der Video-Wahnsinn Part II: Zahlen lügen nicht

Neue Woche, neuer Wahnsinn. Auch am 26. Spieltag der Bundesliga gab es heftigen Diskussionsbedarf. Oder auch nicht, denn in einigen entscheidenden Szenen meldete der Video-Assistent sich erst gar nicht. Ganz nach dem Motto „Schweigen ist Gold“. Weder beim Foul von Dortmunds Verteidiger Abdou Diallo an Herthas Ondrej Duda, noch beim Handspiel von BVB-Stratege Julian Weigl. Weder beim Foul von Nürnbergs Robert Bauer an Frankfurts Mijat Gacinovic, noch beim Handspiel von Stuttgarts Innenverteidiger Ozan Kabak


In „Der Video-Wahnsinn Part I: Jede Woche dasselbe Theater“ hat 90plusdrei den emotionalen Einfluss des Videobeweises untersucht. Fazit: Zu viele Köche verderben den Brei. In diesem zweiten Teil nimmt 90plusdrei die Statistiken rund um den VAR unter die Lupe. Dabei geht es um die Frage:

Ist der Videobeweis den ganzen Stress wirklich wert?

Seit Einführung des VAR-Systems werden weltweit Daten zu Überprüfungen und Eingriffen durch den Video-Assistenten erhoben und ausgewertet. Auch die DFL und der DFB versuchen wertvolle Erkenntnisse aus saisonrückblickenden Analysen zu gewinnen, um den Einsatz des VAR in Bundesligaspielen stetig zu verbessern.

631 Überprüfungen, 56 Eingriffe – 40 Fehlentscheidungen verhindert

So wurden in der Hinrunde 2018/2019 insgesamt 879 Situationen in 153 Spielen überprüft. Bei 631 dieser Überprüfungen handelte es sich um sogenannte „silent checks“ - eine Überprüfung der Spielszene ohne Kommunikation mit dem Schiedsrichter. Hinzu kamen 192 Überprüfungen oder „checks“ einschließlich Kommunikation mit dem Schiedsrichter. Insgesamt 56 Mal griff der VAR mit einer Handlungsempfehlung an den Schiedsrichter aktiv in das Spielgeschehen ein. Ein Eingriff dauerte im Durchschnitt 60 Sekunden.

Somit kommt es alle zwei bis drei Spiele zu einer Intervention durch den Video-Assistenten. Laut des offiziellen Hinrunden-Berichts des DFB und der DFL wurden mithilfe des VAR insgesamt 40 Fehlentscheidungen verhindert. Dabei sind zwei Interventionen zu Unrecht ausgeblieben und eine Intervention war falsch.

Dementsprechend bewertet Dr. Jochen Drees, fachlicher Leiter des Videoprojekts, die Hinrunden-Bilanz als sehr positiv: „Nach der Analyse der zurückliegenden Hinrunde bestätigen sich im Bereich Video-Assistent weitgehend die auch aus der letzten Saison dokumentierten Zahlen, die eine stabile Leistung der Video-Assistenten auf einem guten bis sehr guten Niveau ableiten lassen.“

Positive Bilanz, ABER…

Das Schlüsselwort der Aussage: weitgehend. Denn im Bericht werden auch ein falscher Eingriff sowie zwei ausgebliebene Eingriffe des VAR gezählt. Das wird sich in Zukunft auch nicht vermeiden lassen. Woche für Woche müssen Fans im Stadion und vorm Fernseher dabei zusehen, wie der Video-Assistent eingreift und fragliche Entscheidungen trifft - ob der VAR zu Unrecht oder erst gar nicht eingreift. Und fragliche Entscheidungen wird es immer geben. Denn was eine „klare Fehlentscheidung“ sein soll, basiert auf subjektiver Bewertung - insbesondere bei Situationen, die einen Elfmeter (Hand- oder Foulspiel im Strafraum) oder eine rote Karte nach sich ziehen. Somit kann auch der VAR keine Entscheidungen zu 100 Prozent richtig treffen. Die Eingriffe des Video-Assistenten sind nur weitgehend - also nicht ganz - korrekt.

Kein Eingriff kann auch eine Fehlentscheidung sein

Beispiel: 26. Spieltag, Hertha BSC gegen Borussia Dortmund. In der 58. Minute holt Dortmunds Verteidiger Diallo seinen Gegner, Ondrej Duda, im eigenen Strafraum von den Beinen. Ein klares Foul, kein Pfiff. Die Szene läuft weiter, der BVB kontert und beim Schuss von Youngster Jadon Sancho fehlen nur wenige Meter zum Tor. Kein Eingriff und fast die doppelte Bestrafung für die Hertha. Doch die Fußball-Welt ist sich weitgehend einig: Der VAR macht den Fußball gerechter.

5,9 Prozent mehr Gerechtigkeit durch den Videobeweis

Noch vor Einführung des Videobeweises führte das IFAB (International Football Association Board) in Zusammenarbeit mit der Universität Leuven eine Studie über den „Video Assistent Referee“ durch. Insgesamt wurden 804 Pflichtspiele (und weitere 700 Testspiele) in über 20 nationalen Ligen (u.a. Deutschland, England, Italien und Frankreich) untersucht. Dabei lag die initiale Genauigkeit einer Entscheidung durch den Schiedsrichter OHNE VAR bei den einschlägigen Kategorien (Elfmeter, Torerzielung, rote Karte, Verwechslung) bei 93 Prozent. Bedeutet: In mehr als 1000 Partien traf der Schiedsrichter auf dem Platz in 93 Prozent aller Fälle die korrekte Entscheidung.

Mit dem VAR und der Technik liegt diese Entscheidungsgenauigkeit bei 98,9 Prozent. Somit verbessert sich die Korrektheit der Entscheidungen mithilfe des VAR um 5,9 Prozent. Viel mehr geht nicht, weiß auch das IFAB. In seinem Bericht weist das internationale Fußball-Gremium darauf hin, dass 100 Prozent Genauigkeit „aufgrund menschlicher Wahrnehmung und Subjektivität in der Entscheidungsfindung“ nicht möglich sind. Doch genau das erwarten Spieler und Fans. Wofür der ganze Stress, wenn es weiterhin Fehlentscheidungen gibt und Spielsituationen unterschiedlich bewertet werden? Im traditionellen Fußball ohne VAR hatte man wenigstens Gewissheit und Verständnis für Fehler des Schiris. Selbst die oberste Regelbehörde des Fußballs hat diese Problematik erkannt: 

„Ohne Videobeweis werden Fehler des Schiedsrichters eher akzeptiert. Mit Videobeweis erwartet man, dass er alles richtig macht“, sagte Lukas Brud, Geschäftsführer bei der IFAB.
Doch absolute Gerechtigkeit ist nicht realisierbar, denn der Fußball ist menschlich – für Menschen, von Menschen, mit Menschen. Die Technik und das Streben nach Perfektion sind für den Fan nicht nachvollziehbar. Die Veränderungen bringen Unruhe und Unsicherheit.

Mehr Gerechtigkeit, weniger Leidenschaft

Die Nachteile, die der VAR mit sich gebracht hat sind eindeutig. Das System ist intransparent, die Geduld der Fans wird auf die Probe gestellt, Entscheidungen werden ungleich getroffen, Schiedsrichter verlieren Entscheidungshoheit, Klubs werden zur Kasse gebeten – der Fußball verliert ein Stück Leidenschaft und Charakter.

Der Vorteil: 5,9 Prozent mehr Gerechtigkeit. Doch ist es gerecht, Spieler, Trainer und Fans zittern zu lassen? Ist es gerecht, den Schiedsrichtern auf dem Platz Entscheidungen vorzugeben? Ist es gerecht, dass Millionen für 5,9 Prozent mehr Genauigkeit ausgegeben werden, während Amateurvereine jeden Pfennig umdrehen müssen?

Zu viele Fragen bleiben offen. Was ist ein klares Handspiel? Was ist eine klare rote Karte? Was ist ein klares Foul im Strafraum? Wie lange nach einem vermeintlichen Foulspiel darf der Videoassistent eingreifen? Muss ich auch nach einer Minute noch zittern, dass der VAR eingreift und den Elfmeter doch gibt?

Die Einführung des Videoassistenten hat zweifelsohne zu gravierenden Veränderungen des internationalen Fußballgeschäfts und des gemeinsamen Fußballerlebnisses geführt. Doch der VAR sorgt auch für ein kleines Stück - 5,9 Prozent - mehr Gerechtigkeit. 



Ob sich der Aufwand lohnt, ist Ansichtssache – genau wie „klare Fehlentscheidungen“.








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