Der Video-Wahnsinn Part I: Jede Woche dasselbe Theater

Gut vier Minuten dauerte es bis Schiedsrichter Damir Skomina im Achtelfinale der Champions League zwischen Paris Saint-Germain und Gast Manchester United auf den Elfmeterpunkt zeigte. In der 94. Minute gab der slowenische Spielleiter nach Hinweis vom „video assistant referee“ (VAR) Massimiliano Irrati den Handelfmeter gegen Paris und Innenverteidiger Kimpembe. Der Eingriff sorgt weltweit für neuen Diskussionsstoff, denn der verwandelte Elfmeter von United-Stürmer Marcus Rashford besiegelte das Ende der Pariser Ambitionen in der Champions League.



Denn bereits im Spiel Real Madrid gegen Ajax Amsterdam am Tag zuvor leitete der Videobeweis das Aus des amtierenden Champions-League-Siegers ein. Der Video-Wahnsinn ist also nicht nur auf die Bundesliga begrenzt, in der jede Woche heftig über die Eingriffe und Entscheidungen durch den Videoassistenten gestritten wird. Gefühlt gibt es keine anderen Themen mehr im Doppelpass, Sportstudio oder bei Wontorra’s Fußball-Talk. Deswegen fragt 90plusdrei:

Ist der Videobeweis den ganzen Stress wirklich wert?

Konservative Trainer, altmodische Spieler und vor allem Fans haben sich in der Vergangenheit bereits gegen den Videobeweis ausgesprochen. Christian Streich, Michael Köllner, Andre Breitenreiter und jetzt auch Thomas Tuchel... die Liste ist lang, nahezu jeder Bundesliga-Coach hat bereits Kritik an dem System geübt. So kritisierte Gladbachs Trainer Dieter Hecking u.a. die lange Wartezeit bei VAR-Eingriffen. „Es kann nicht sein, dass wir bis zu drei Minuten warten müssen, ehe eine Entscheidung fällt", so Hecking. Auch Mainz-Coach Sandro Schwarz hält nicht viel von dem Videobeweis:
„Wenn es keinen Video-Beweis gäbe, gehe ich nach dem Spiel zum Schiri, der sagt zu mir: ‚Habe die Bilder gesehen, tut mir leid, habe einen Fehler gemacht.‘ Das Thema ist vom Tisch. So aber ärgern wir uns viel mehr, weil die in Köln 15 Monitore haben und das sehen müssen. Die sollen einfach mal ihren Job machen.“
Doch das Revisionssystem erhält auch viel Rückendeckung, insbesondere von Vereinspräsidenten und Verbandsbossen. Fakt ist jedoch: Der VAR sorgt jedes Wochenende für neue Aufreger. Klar, Aufreger gab es schon vor der Einführung des Videoassistenten. Doch Fehlentscheidungen in Zeiten ohne Videohilfe konnten einfacher akzeptiert werden, denn Schiedsrichter sind menschlich und alle Menschen machen Fehler. Außerdem konnte man bei Niederlagen schnell einen Sündenbock ausmachen.

Heute ist alles komplizierter. Der Schiri ist nicht mehr alleine für die regelkonforme Leitung des Spiels verantwortlich. Auf und neben dem Platz sind vier Offizielle an der Partie beteiligt. Im Videokeller kommen nochmal mindestens drei weitere Personen dazu. Insgesamt sind also mindestens sieben Menschen an der Verfolgung des Spielgeschehens beteiligt. Einen Konsens zu finden ist also nicht immer leicht, denn:

Zu viele Köche verderben den Brei

Entscheidungsfindung ist keine einfache Sache. Erst recht nicht im Fußball. Deswegen kommt die Technik ins Spiel, denn auf die ist immer Verlass, oder? Leider nicht. Ob Funkstörungen, Probleme bei kalibrierten Linien oder sogar der komplette Ausfall - die Bundesliga hat schon alles gesehen. Hinzu kommt die wirre Prozedur bei VAR-Eingriffen. Die Transparenz fehlt. Auch klare Richtlinien sind nicht vorhanden. Fans im Stadion und vorm Fernseher, Spieler, Trainer und selbst Kommentatoren haben zum Teil keine Ahnung, was auf dem Rasen geschieht.


Die Philosophie der neuen Technik: „minimum interference - maximum benefit“, also minimaler Eingriff, maximaler Vorteil. Nur bei „klaren Fehlentscheidungen“ soll eingegriffen werden. Jochen Drees, Leiter des DFB-Videoprojekts, betont dementsprechend, dass der Videoassistent sich nicht einmischen dürfe bei „Entscheidungen die interpretierbar sind“. Doch genau das tut der Videoassistent nahezu jede Woche. Zumindest wenn es um Handspiel geht. Denn beim Handspiel kommt es oft auf die individuelle Wahrnehmung und Interpretation des Schiedsrichters an.

Zack, sind wir beim nächsten Problem: Subjektivität. Die Spieler der Liga bringen die Sache auf den Punkt. „Der Video-Assistent sollte nur bei glasklaren Fehlentscheidungen eingreifen, dann wird er das Spiel bereichern. Bei 50:50-Entscheidungen ist es der falsche Weg", kritisiert Bayern-Verteidiger Mats Hummels. Auch Bayer Leverkusens Angreifer Kevin Volland zeigt sich unzufrieden mit dem Projekt: "So, wie es jetzt umgesetzt wird, ist es ein absoluter Murks." Richtig! Denn was eine „klare Fehlentscheidung“ sein soll, basiert auf subjektiver Bewertung. Eigentlich wie zu alten Zeiten ohne VAR: Der Schiedsrichter trifft seine Entscheidungen aufgrund seiner subjektiven Wahrnehmung.

Das führt zu unverhältnismäßigen und ungleichen Entscheidungen quer durch alle Bundesliga-Partien. So wurden im Zeitalter des VAR sowohl Abseitstore zurückgepfiffen, weil der Stürmer mit 5 Zentimetern im Abseits stand, als auch Abseitstore gegeben, obwohl der Stürmer mit 5 Zentimetern im Abseits stand. Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Das einzige was sich mit dem VAR also verändert hat: Der Schiedsrichter hat keine Entscheidungshoheit mehr. Bei vermeintlichen Fehlentscheidungen kommt eine zusätzliche subjektive Bewertung der Szene durch den Videoassistenten dazu.

Ist das nicht kontraproduktiv?

Nürnberg-Coach Michael Köllner findet den Souveränitätsverlust des Schiedsrichters problematisch. "Am Ende tun mir die Leute leid, die mit ihren andersfarbigen Trikots auf dem Platz stehen, weil sie nichts mehr zu sagen haben. Am Ende muss der Schiedsrichter die Entscheidungshoheit haben, es selbst alles zu regeln, so wie es früher war“, sagte Köllner. „Es ist für mich ein Humbug, dass man so was auf die nächste Ebene schickt.“

Ja, die Technik macht einige Entscheidungen einfacher. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass auch im Videokeller nur Menschen sitzen. Und Menschen machen Fehler, auch mithilfe der Technik. Denn wie der Schiri im Stadion entscheidet auch der Videoassistent auf subjektiver Basis, ob er den Spielleiter auf dem Platz anfunkt oder nicht.

Längere Wartezeiten als beim Arzt

Währenddessen warten Millionen von Zuschauern auf den endgültigen Pfiff. Nach dem Spiel gibt es dann die Diskussion, ob der Eingriff berechtigt war oder nicht. Genauso wie es damals die Diskussion gab, ob der Schiri richtig lag oder nicht. Viel hat sich also nicht verändert. Bis auf extra Wartezeiten beim Torjubel - wem gefällt es nicht 2 Minuten zu warten und zu zittern, ob das Tor endlich gegeben wird oder nicht.

Fußball ist ein emotionaler Sport - für Fans und Spieler. Mit der Videotechnik gehen die Emotionen ein wenig verloren. Wer als Zuschauer aus Freude über ein Tor direkt sein Bier in die Masse schmeißt, tut das heutzutage oft zu früh und eventuell umsonst. 

Waren die guten alten Zeiten besser? 

Klarheit, kein Warten und Freude pur bei jedem Tor. Immerhin gibt es den echten, traditionellen Fußball weiterhin. Zum Beispiel im DFB-Pokal (bis zum Viertelfinale), in der 2. Liga oder in der Gruppenphase der Champions League - für diejenigen, die wie Freiburgs Trainer Christian Streich ticken:
„Wir leben im Technologie-Zeitalter, aber ich bin altmodisch und hab“ das Spiel lieber, wie's vorher war.“
Der ganze Stress um den VAR scheint sich nicht zu lohnen. Warum? Die Antwort gibt es demnächst im zweiten Teil: Video-Wahnsinn Part II: Zahlen lügen nicht.



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